[Rundweg Religion]

Dorstener Geschichte - Station 23: Jüdische Gemeinde

Suchend tasten zwei Augenpaare die Häuserzeile in der Wiesenstraße entlang, bis sie an einer hellen Fassade hängen bleiben. Ja - hier ungefähr könnte das jüdische Gemeindehaus mit dem Betraum gestanden haben. Sara Fochler (19) und Fabian Haase (19) suchen Spuren. Spuren ausgelöschten jüdischen Lebens in ihrer Heimatstadt.

Klar, über Nationalsozialismus haben Sara, Oberstufenschülerin am Gymnasium Petrinum, und Fabian, angehender Abiturient am St. Ursula-Gymnasium, schon jede Menge gelernt. Doch, was damals vor Ort passierte…? Fehlanzeige. „Lokale Geschehnisse werden im Unterricht so gut wie nicht angesprochen", bedauert Sara Fochler. Deshalb zögerte sie nicht lange, als Geschichtslehrer Dr. Josef Ulfkotte im Schülerkreis vor knapp einem Jahr um Mitwirkung für eine Geschichtsstation über die Jüdische Gemeinde in Dorsten warb.

Im Rahmen der Aktion „Dorstener Geschichte", die die Stadt Dorsten in Zusammenarbeit mit dem Lions Club Dorsten-Hanse und dem Gymnasium Petrinum organisiert, sollte diese 23. Station geboren werden. Der Aufruf fand keinen übermäßig großen Widerhall. Wen wunderts's - mit Eintritt in die 13. Jahrgangsstufe ist die letzte Runde im Kampf ums Abitur eingeläutet - da steckt man auch ohne Zusatzarbeit bis zum Hals in Stress. Sara war dennoch sofort Feuer und Flamme. Florian auch.

Zu zweit machten sie sich zuversichtlich ans Werk. Zum Glück gibt's ja noch helfende Lehrer und ein Jüdisches Museum vor Ort, das die gut aufgearbeitete Geschichte der Juden in Dorsten parat hat. „Thomas Ridder vom Jüdischen Museum hat uns eine tolle Zusammenfassung zur Verfügung gestellt", bedanken sich die Schüler bei der zuverlässigen Quelle. Zudem informierten sich die Jugendlichen in den Veröffentlichungen, die die Forschungsgruppe Dorsten unterm Hakenkreuz über die Vergangenheit der jüdischen Gemeinde herausgebracht hat. „Wir haben sie stichwortartig durchgeblättert", bekennen sich die Schüler zu einem zeitökonomisch effizienten Arbeitsstil. „Auf die Tafel passt eh nicht so viel drauf", grinst Fabian. „Da musste allein aus platztechnischen Gründen einiges gestrichen werden."

Weg mit dem Wust an Jahreszahlen, weg mit allgemein bekannten Verordnungen und Pogromen. Wichtig dagegen das Jahr 1808, in dem sich die ersten Juden, der Fleischhauer Michael Samuel und Moyses David aus Wesel, in Dorsten dauerhaft niederließen. In den nachfolgenden Jahren siedelten sich weitere Familien an. Sie arbeiten als Viehhändler und Metzger, Stuhlbinder und Schuster, Kaufmann und Hausierer. Mit 100 Juden war die höchste Mitgliederzahl erreicht; die zählte man im Jahre 1846, ein weiteres wichtiges Datum, denn in diesem Jahr wurde die flächenmäßig sehr große Synagogenhauptgemeinde Dorsten gegründet.

Dann der Erste Weltkrieg 1914-1918: acht jüdische Männer aus Dorsten nehmen am Ersten Weltkrieg teil; drei von ihnen fallen. „Eine wichtige Information, zeigt sie doch, dass die Juden sich als patriotische Deutsche fühlten, die im Krieg für ihr Vaterland ihr Leben riskierten", erklären Fabian und Sara. (Dorstener Zeitung)



1599

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Der Kölner Erzbischof Ernst von Bayern erlässt für das Vest Recklinghausen die erste „Judenordnung”. In den nächsten 200 Jahren halten sich in Dorsten und der Herrlichkeit Lembeck zeitweise einzelne Juden auf.

Grabstein von Ezechiel Hess auf dem Friedhof im „Judenbusch”

1628

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In einer Urkunde wird das „Judenfeld” (heute noch: „Judenbusch”) an der Hasselbecke erwähnt. Das Gelände wird nachweislich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts als Friedhof genutzt. Weitere Friedhöfe werden in der Folgezeit in Lembeck und Wulfen angelegt.

Die USA verbieten die weitere Einfuhr von Sklaven.

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1808

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Die ersten Juden lassen sich dauerhaft in Dorsten nieder und richten wenig später einen Betraum ein. Im Laufe der Zeit bildet sich in der Wiesenstraße das jüdische Zentrum der Stadt heraus.

1846

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Einer Anordnung der preußischen Regierung zufolge bildet sich die Synagogen-(Haupt)-Gemeinde Dorsten. Dazu gehören Buer, Marl, Bottrop, Kirchhellen, Lembeck und Altschermbeck sowie Gladbeck, Osterfeld, Erle, Rhade und Wulfen.

Todesanzeige in der Dorstener Volkszeitung

1914 - 1918

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Acht jüdische Männer aus Dorsten nehmen am Ersten Weltkrieg teil; drei von ihnen fallen.

Japan tritt aus dem Völkerbund aus.

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1933

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In Dorsten, Lembeck und Wulfen leben etwa 90 Juden. Aus Angst vor den Nationalsozialisten verlassen einige Familien in den nächsten Jahren ihre Heimat und wandern aus.

1938

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SA- und SS-Angehörige sowie Mitglieder von NS-Jugend­organisationen schänden den Friedhof im Judenbusch, verwüsten die Synagoge und verbrennen Einrichtungs­gegenstände auf dem Marktplatz.

1939

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In Dorsten werden die Juden zwangsweise in zwei „Judenhäusern” konzentriert (Lippestr. 54 und Wiesenstr. 24).

Amalie Perlstein (gest. 1941) mit ihren Enkelkindern Ursel und Liesel, die beide im KZ ermordet wurden

1942

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Die letzten noch in Dorsten und Lembeck lebenden Juden werden in das KZ Riga deportiert. Dort verliert sich die Spur vieler Deportierter für immer. Den Holocaust überleben von den Dorstener Juden nur Max und Ernst Metzger, die nach dem Ende des Krieges nach Amerika auswandern.

In der DDR organisiert sich die Friedens­bewegung („Schwerter zu Pflug­scharen”).

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ab 1982

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Die Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz” arbeitet die Geschichte der jüdischen Gemeinde auf.

ab 1990

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Einzelne jüdische Familien aus der ehemaligen Sowjetunion finden in Dorsten eine neue Heimat.

Jüdisches Museum Westfalen

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1992

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Das „Jüdische Museum Westfalen” wird als Lehrhaus für Geschichte und Gegenwart des Judentums in der Region eröffnet und 2001 um einen modernen Anbau erweitert.

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Daten und Fakten

Eröffnung - 09. November 2005

Adresse - Grabenanlage, Nähe Jüdisches Museum

Geodaten - 51°39'34.92 6°58'01.75



Die Redaktion der Geschichtsstation

Die Geschichtsstation - Im Hintergrund das jüdische Museum

Sara Fochler und Fabian Haase wirkten an der Geschichtstafel über die jüdische Gemeinde mit.

In langen mühseligen Diskussionen bis in kleinste Wortfeilereien warfen Sara und Fabian Ballast über Bord, den sie als überflüssig betrachteten. Die Schlussredaktion erledigte Dr. Ulfkotte.

Das Portal zum Museum

„Gar nicht so einfach, komplexe Zusammenhänge derart zusammenzuschmelzen, dass sie verständlich bleiben und Sinn ergeben", stellten die „Stadthistoriker" fest. „Durch die Arbeit an der Geschichtsstation haben wir in Sachen Teamfähigkeit und Kompromissbereitschaft eine Menge hinzugelernt", meinen beide unisono.

Der moderne Anbau

„Das alles hat uns natürlich berührt, aber wir sollten die Juden nicht nur in ihrer Opferrolle zeigen", erklären die Schüler. Deshalb endet die Tafel nicht mit dem Ende der jüdischen Gemeinde, sondern sie erzählt weiter, von der Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz" und vom Jüdischen Museum Westfalen, das Geschichte und Gegenwart des Judentums in der Region beleuchtet.

Feierliche Eröffnung 2005

Sicht auf die Geschichtsstation über den Graben

Am 9. November 2005 wird die Geschichtsstation vis à vis dem Jüdischen Museum enthüllt. Wenn das Tuch von der Tafel rutscht, denken Sara und Fabian vielleicht daran, dass nur wenige Straßen entfernt, genau an diesem Tag vor 67 Jahren, grölende Nazis die Dorstener Synagoge mit brennenden Fackeln stürmten. (Dorstener Zeitung)